Michele Genoni, Lukas Künzler, Florian Wanner, Andreas Roos (FMCH)
Der Bereich der Zusatzversicherungen (VVG) und die beteiligten Akteure (Zusatzversicherer und Leistungserbringer) stehen unter Druck: Die Eidgenössische Finanzmarktaufsicht FINMA hat 2020 im Rahmen ihrer Aufsichtstätigkeit Analysen und Vor-Ort-Kontrollen bei Krankenzusatzversicherern durchgeführt und sieht «umfassenden Handlungsbedarf bei Leistungsabrechnungen».
Die FINMA verlangt von den Versicherern, dass sie «nur Abrechnungen für echte Mehrleistungen ausserhalb der obligatorischen Krankenversicherung akzeptieren. Zudem haben die Versicherer sicherzustellen, dass die verrechneten Kosten in einem angemessenen Verhältnis zu den tatsächlichen Mehrleistungen stehen.» Weiter sollen die Versicherer «dafür sorgen, dass die Leistungserbringer transparente und nachvollziehbare Abrechnungen erstellen». Die FINMA erwartet eine «möglichst rasche und umfassende Bereinigung» und hat die Versicherer aufgefordert, die VVG-Verträge mit den Leistungserbringern entsprechend anzupassen¹.
Als Folge haben grosse Versicherer die entsprechenden Verträge mit Spitälern gekündigt. Der Schweizerische Versicherungsverband (SVV) hat zudem ein Branchen-Framework «Mehrleistungen VVG»² entwickelt, zu dem sich alle Zusatzversicherer verpflichtet haben und welches die Grundlage für zukünftige Tarifverträge bilden soll. Dieses Framework umfasst Grundsätze zur Definition, Bewertung, Abrechnung und Zukunft von Mehrleistungen und gliedert die Mehrleistungen in die drei Kategorien ärztliche Leistungen, klinische Leistungen (organisatorische und prozessuale und Vorhalteleistungen) sowie Hotellerie/Komfort. Jeder Leistungserbringer muss das jeweilige Leistungsniveau der Obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP) und darauf aufsetzend die VVG-Mehrleistungen aufzeigen. Die konkreten Leistungspakete und Preise werden in den Verhandlungen zwischen den einzelnen Versicherern und den einzelnen Leistungserbringern festgelegt, um auch wettbewerbsrechtliche Vorgaben einzuhalten.
Als Dachverband hat sich die FMCH dieser relevanten gesundheitspolitischen Problematik angenommen. Mit Unterstützung und Federführung von PwC und mit breitem Einbezug von Leistungserbringern und Versicherern wurde ein Leistungskatalog erarbeitet, der ärztliche Mehr- und Zusatzleistungen im VVG-Bereich klar beschreibt und abgrenzt. Dieser Katalog dient als Unterstützung und Arbeitshilfe in der Erarbeitung und Strukturierung von ärztlichen Mehr- und Zusatzleistungen durch die einzelnen Leistungserbringer. Er soll auch als Grundlage verwendet werden können für die individuellen Verhandlungen zwischen Leistungserbringern und Versicherern. Der Katalog ist eine Empfehlung und Wegleitung. Er ist keine verbindliche Vorgabe; er stellt keine Tarifstruktur, keine Kalkulationshilfe und kein Preismodell dar. Die Abgeltung der Mehr- und Zusatzleistungen ist nachgelagert zwischen Leistungserbringer und Versicherer auszuhandeln, wobei die geltende Rechtsprechung³ zu berücksichtigen ist.
Der Leistungskatalog beinhaltet ausschliesslich ärztliche Mehr- und Zusatzleistungen. Die Kategorien «Hotellerie/Komfort» sowie «klinische Mehrleistungen» werden nicht adressiert. Ärztliche Mehrleistungen umfassen:
Der Katalog umfasst fünf Kategorien von Mehr- und Zusatzleistungen, die pro Kategorie jeweils weiter in einzelne Leistungen aufgeteilt werden.
Übersicht der fünf Kategorien des Mehr- und Zusatzleistungskatalogs
Primär für den stationären und den spitalambulanten Bereich werden die Kategorien erläutert und beispielhaft konkretisiert:
Eine abschliessende Auflistung von Innovationen ist nicht möglich und auch nicht beabsichtigt. Der medizinische Fortschritt ist dynamisch, die Innovation von heute ist der Standard von morgen. Im FMCH-Ansatz wird ein rollender Prozess mit Checklisten vorgeschlagen, der den Leistungserbringern eine strukturierte Vorgehensweise für die Beurteilung und Aufnahme von Innovationen ermöglicht.
Der Katalog für Mehr- und Zusatzleistungen ist primär auf das stationäre und spitalambulante Umfeld anwendbar. Auch im ambulanten Bereich sind Mehr- und Zusatzleistungen grundsätzlich möglich. Hier definiert die jeweils gültige ambulante Tarifstruktur das OKP-Leistungsniveau, auf dem Mehr- und Zusatzleistungen aufsetzen. Dabei ist insbesondere bei Mehrleistungen der Tarifschutz (Art. 44 KVG) zu beachten. So ist für die ambulante Behandlung die freie Wahl unter den zugelassenen Leistungserbringern gemäss Art. 41 Abs. 1 KVG schon in der OKP garantiert.
Die Mehr- und Zusatzleistungen müssen sich an den Bedürfnissen des Patienten und den Möglichkeiten des Spitals orientieren und ethisch und medizinisch vertretbar sein. Jeder Leistungserbringer muss sein OKP-Leistungsniveau aufzeigen und festlegen; die Mehr- und Zusatzleistungen setzen auf dem OKP-Niveau des jeweiligen Leistungserbringers auf. Das OKP-Leistungsniveau und die Aufnahmepflicht für OKP-Versicherte dürfen durch VVG-Mehrleistungen nicht beeinträchtigt werden. Dire regulatorischen und gesetzlichen Rahmenbedingungen sind einzuhalten.
Die konkrete Definition und Umsetzung der Mehr- und Zusatzleistungen hängt von den organisatorischen und prozessualen Möglichkeiten des jeweiligen Leistungserbringers und auch von den Anforderungen und der Ausgestaltung der VVG-Produkte der einzelnen Versicherer ab. Den Unterschieden zwischen öffentlichen Spitälern (mit Chefarztsystem und Spezialdisziplinen) und Privatkliniken (mit Belegarztsystem) ist Rechnung zu tragen. Beispielsweise muss die Mehrleistung einer erhöhten Verfügbarkeit (im Maximalfall einer «Rund um die Uhr Verfügbarkeit» für Privat-Patientinnen und -Patienten) von jedem Leistungserbringer nach seinen Möglichkeiten definiert und umgesetzt werden. Die Aufnahme von Innovationen in den VVG-Leistungskatalog richtet sich ebenfalls nach den Möglichkeiten (Grösse, Spezialisierung, Forschungsschwerpunkte) des jeweiligen Spitals. Ob und in welcher Form eine Differenzierung zwischen Halbprivat- und Privat-Leistungen möglich und sinnvoll ist, muss spitalindividuell und in Abstimmung mit den einzelnen Krankenversicherern festgelegt werden.
Zusammenfassend bedeutet dies, dass Mehr- und Zusatzleistungen auf dem OKP-Leistungsniveau des jeweiligen Leistungserbringers aufgesetzt und spital- und versicherungsspezifisch erarbeitet, festgelegt und umgesetzt werden müssen.
Der Schweizerische Versicherungsverband SVV begrüsst die Bestrebungen seitens FMCH sehr, einen FINMA-konformen VVG-Mehrleistungskatalog zu erarbeiten. FMH und H+ unterstützen den Leistungskatalog der FMCH als pragmatische und strukturierte Arbeitshilfe für die Leistungserbringer und als nützliche Grundlage für die individuellen Tarifverhandlungen.
Der detaillierte Leistungskatalog für Ärztliche Mehr- und Zusatzleistungen VVG steht unter www.fmch.ch/VVG als Download zur Verfügung. Der Katalog wird periodisch überprüft und aktualisiert.
Kontakt
lukas.kuenzler@fmch.ch
1Medienmitteilung der FINMA vom 17. Dezember 2020: Krankenzusatzversicherer: FINMA sieht umfassenden Handlungsbedarf bei Leistungsabrechnungen.
2Branchen-Framework zu «Mehrleistungen VVG» des SVV, gültig ab Juni 2021; Zusatz zum Branchen-Framework «Mehrleistungen VVG» – Ärztliche Mehrleistungen des SVV, gültig ab November 2021 (www.svv.ch/sites/default/files/2021-11/20211113_SVV_Folgeprojekt%20Mehrleistungen%20VVG_Zusatzdokument_Final_DE.pdf).
3BGE 135 V 443 E. 3.7.3